Zurückholen der verlorenen Seelenanteile

Schamanismus: Zurückholen der verlorenen Seelenanteile
Heilung durch Rückverbindung mit dem inneren Selbst

Wenn Menschen traumatische Erfahrungen durchleben, sprechen Psychologen oft von „Abspaltungen“, von dissoziativen Prozessen, die das Ich schützen sollen. In indigenen Kulturen findet sich ein erstaunlich ähnliches Konzept – nur in einer anderen Sprache: der Seelenverlust. Schamaninnen und Schamanen weltweit sprechen davon, dass bei tiefgreifenden Erlebnissen – wie einem Unfall, Missbrauch, Verlust oder Schock – Anteile der Seele den Körper verlassen, um sich vor dem Schmerz zu retten. Was für den westlichen Verstand mystisch klingt, ist für traditionelle Kulturen ein zentrales Konzept der Heilung. Im Zentrum steht eine spirituelle Praxis: das Zurückholen verlorener Seelenanteile.

Der Seelenverlust als spirituelles Trauma

In der schamanischen Kosmologie besteht die Seele nicht aus einem einzigen, unteilbaren Ganzen, sondern aus mehreren energetischen Anteilen. Wenn einer dieser Anteile durch ein belastendes Erlebnis abgespalten wird, hinterlässt das eine Lücke – oft spürbar als anhaltende Leere, emotionale Taubheit oder chronische Erschöpfung. Aus schamanischer Sicht kann ein solcher Verlust langfristig zu psychosomatischen Krankheiten, Depressionen oder Suchtverhalten führen.

Im modernen psychologischen Diskurs gibt es ähnliche Begriffe: Dissoziation, Trauma-Fragmentierung oder auch das „innere Kind“. Doch während westliche Therapieformen oft analytisch oder verhaltensorientiert arbeiten, setzen schamanische Heilmethoden an der Seele selbst an. Der schamanische Ansatz verfolgt nicht primär das Ziel, die Symptome zu lindern, sondern die ursprüngliche Ganzheit des Menschen wiederherzustellen.

Schamanische Reise: Begegnung im nichtalltäglichen Bewusstsein

Die Rückholung von Seelenanteilen ist eine der ältesten bekannten Praktiken des Schamanismus. Dabei begibt sich der Schamane oder die Schamanin in einen veränderten Bewusstseinszustand – traditionell durch Trommeln, Rasseln oder Gesänge induziert. Ziel ist es, mit der geistigen Welt in Kontakt zu treten und die verlorenen Anteile des Menschen zu finden.

Der Schamane reist dabei in die sogenannte „nichtalltägliche Wirklichkeit“, die in drei Ebenen unterteilt ist: die untere Welt (Krafttiere, Ahnen), die mittlere Welt (Gegenwart, Ereignisse) und die obere Welt (geistige Lehrer, höhere Bewusstseinsebenen). In dieser erweiterten Wahrnehmung kann der Schamane Kontakt mit den abgespaltenen Seelenanteilen aufnehmen, sie heilen und in einem rituellen Akt zum Klienten zurückbringen.

Häufig zeigen sich diese Anteile in symbolischer Form: als Kind, als Tier, als Schatten oder sogar als Stimme. Sie tragen Botschaften, oft emotionale Erinnerungen, die zum Zeitpunkt des Traumas nicht integriert werden konnten. Der Schamane agiert als Mittler zwischen den Welten, als „Seelenbegleiter“, der jenen Anteil zurückführt, der einst verloren ging.

Wie sich Heilung anfühlen kann

Menschen, die eine solche Rückholung erlebt haben, berichten oft von tiefgreifenden Veränderungen: Sie fühlen sich wieder „ganz“, empfinden neue Lebenskraft, Klarheit oder Mut. Manche erleben emotionale Reinigungsprozesse, andere ein Gefühl von Frieden, das sie lange vermisst haben. Es ist jedoch wichtig zu verstehen: Die Rückholung ist kein magischer Sofort-Effekt, sondern oft der Beginn eines inneren Integrationsprozesses, der Zeit, Achtsamkeit und manchmal auch therapeutische Begleitung braucht.

Schamanismus in der modernen Welt

In den letzten Jahrzehnten hat der Schamanismus – insbesondere durch Persönlichkeiten wie Sandra Ingerman oder Michael Harner – auch im Westen an Bedeutung gewonnen. Ihre Arbeit hat gezeigt, dass schamanische Techniken, obwohl uralt, in heutige Lebensrealitäten integriert werden können – unabhängig von Religion oder Herkunft.

Dennoch ist die Praxis nicht frei von Kritik. Besonders in Bezug auf „Neo-Schamanismus“ oder spirituellen Tourismus wird häufig vor kultureller Aneignung gewarnt. Die Wurzeln des Schamanismus liegen tief in den jeweiligen Kulturen und Naturverhältnissen, und wer sich dieser Praxis nähert, sollte dies mit Respekt, Achtsamkeit und einem klaren ethischen Rahmen tun.

Wissenschaftlicher Blick und Grenzbereiche

Aus wissenschaftlicher Sicht bleibt das Konzept des Seelenverlustes umstritten. Es gibt keine objektive Methode, um verlorene Seelenanteile zu „messen“. Dennoch beschäftigen sich zunehmend auch Psychologen mit den Wirkmechanismen schamanischer Heilmethoden. Studien über veränderte Bewusstseinszustände, Trancearbeit und rituelle Prozesse zeigen: Was früher als irrational galt, wird heute mit neuen Augen betrachtet.

In der modernen Traumatherapie – etwa in der Arbeit mit inneren Anteilen nach Richard Schwartz („IFS“) oder in der Ego-State-Therapie – finden sich parallele Denkmodelle. Auch dort geht es um den Kontakt mit abgespaltenen Selbstanteilen, die gesehen, gehört und integriert werden wollen.

Die Rückkehr zur inneren Ganzheit

Das Zurückholen verlorener Seelenanteile ist kein esoterisches Spektakel, sondern ein zutiefst spiritueller Akt, der den Menschen in seiner Ganzheit würdigt – Körper, Geist und Seele. In einer Welt, in der viele Menschen sich entfremdet, fragmentiert oder innerlich leer fühlen, öffnet der Schamanismus einen Raum der Rückverbindung. Nicht jeder braucht dazu einen Schamanen. Manchmal genügt es, still zu werden, nach innen zu hören und sich zu fragen: Wo bin ich mir selbst verloren gegangen?

Dort beginnt die Reise – zurück zur eigenen Seele.

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